Prof. Dr. Hans-Georg Scherer
Im Ruhestand

Forschung

Diese Seite gibt einen kurzen Überblick über meine Forschungstätigkeiten. Es sind nicht einzelne Projekte, sondern längerfristige Arbeiten zu übergreifenden Themen und dabei nur solche aufgeführt, die mit empirischen Arbeiten verbunden waren. Darüber hinaus gibt es eine Reihe theoretischer Studien, etwa zu wissenschaftstheoretischen Problemen oder zu bildungstheoretischen und didaktischen Fragen, die der Publikationsliste zu entnehmen sind.


Forschungsthemen:

  • Konstruktion und Evaluation von Sportangeboten für blinde und sehbehinderte Menschen
  • Bewegungsvorstellung bei Blindheit
  • Raumwahrnehmung bei Blindheit
  • Situative Kontexte als Lernfaktoren
  • Wahrnehmung, Bewegung und Kognition
  • Transfer beim motorischen Lernen
  • Motorische Fitness von Soldaten


Konstruktion und Evaluation von Sportangeboten für blinde und sehbehinderte Menschen (1979 – 1990)

Ziel dieses Projekts war die Erweiterung des Spektrums von Bewegungsangeboten und Sportarten über den klassischen Kanon von Blindensportarten hinaus und die Erschließung von attraktiven Freizeitsportangeboten. In Kooperation mit einer Marburger Sonderschule für blinde und sehbehinderte Schüler (Gymnasium, Fachoberschule und Berufsschule) wurde in einem formativ und summativ evaluierten Curriculumforschungsprozess ein Schulsportkonzept entwickelt. In diesem Rahmen war es notwendig, eine Reihe von Sport- und Bewegungsangeboten in empirisch kontrollierten Forschungszyklen an die Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Bewegungsmöglichkeiten blinder und sehbehinderter Menschen zu adaptieren bzw. neu zu konstruieren (z.B. Skifahren, Wildwasser-Kajak, Windsurfen oder Klettern). Auf Basis des initialen Schulsportprojekts entwickelte sich eine differenzierte regionale Infrastruktur des integrativen Blinden- und Sehbehindertensports in unterschiedlichen Sportarten und Vereinen sowie ein Studienschwerpunkt am Institut für Sportwissenschaft und Motologie der Universität Marburg, in dem Sportstudierende eine staatlich anerkannte Zusatzqualifikation für den Sport mit blinden Menschen erwerben können. 

Literatur 


Bewegungsvorstellung bei Blindheit (1990 – 1999)

In der Praxis des Bewegungslernens mit blinden Menschen erweist sich die Bildung von Bewegungsvorstellungen als nachhaltiges und für Sehende auf phänomenaler Ebene nicht zugängliches Problem. In einem problemorientierten Forschungsprozess wurden diese „unvorstellbaren Vorstellungen“ schrittweise einer theoretischen und empirischen Bearbeitung zugeführt. Im Vordergrund stand dabei zunächst die Frage, inwiefern sich Bewegungskonzepte blinder Bewegungslerner von denen sehender auf semantischer Ebene unterscheiden, um auf dieser Basis Spezifika modal-anschaulicher Vorstellungen eingrenzen zu können. Experimentelle Studien mit unterschiedlichen Aufgabentypen und Instruktionsstrategien zeigten, dass blinde Bewegungslerner auf Basis vergleichbarer Erfahrungen im Lernprozess auch vergleichbare Bewegungsrealisierungen und postaktionale Repräsentationen entwickeln wie sehende Bewegungslerner. Unterschiede ergaben sich insbesondere bei den präaktionalen semantischen Analysen standardisierter Instruktionen und demzufolge bei der Bildung antizipativer Konzepte. Hier gibt es Hinweise darauf, dass versuchblinde (sehende) Probanden zu höheren Integrationsleistungen und zur Bildung komplexerer Vorstellungseinheiten in der Lage sind als blinde Probanden und dass dies vermutlich auf internen Visualisierungseffekten beruht. Modale Unterschiede bei der Bildung von Bewegungsvorstellungen sind somit nicht nur in der externen Adressierbarkeit von Konzepten via Instruktion, sondern auch in den Möglichkeiten der internen Informationsverarbeitung zu suchen.

Literatur


Raumwahrnehmung bei Blindheit (1990 - 1999)

Das Problem der räumlichen Orientierung beim sportlichen Handeln bei Blindheit ist evident. Fragt man jedoch nicht in einer defizitorientierten Einstellung danach, was bei visueller Deprivation fehlt, sondern, positiv gewendet, danach, welche raumbezogenen Wahrnehmungsmöglichkeiten blinden Menschen beim sportlichen Handeln zur Verfügung stehen, so ist das gesamte, über die sportliche Aufgabe gestiftete und daher je spezifische phänomenale Person-Umwelt-Gefüge auf Informationsmöglichkeiten abzuklopfen. Auf Basis ökologischer Wahrnehmungstheorien wurden in einer Reihe explorativer Experimente Bedingungsfaktoren dieser dynamischen und vollzugsemergenten Informationsstrukturen auf Aufgaben- und Umwelt- sowie auf personaler Seite herausgearbeitet. In praktischer Anwendung dieser Erkenntnisse war es möglich, durch gezielte Nutzung bzw. Konstruktion von raumbezogenen Informationsangeboten die Selbständigkeit blinder Menschen bei spezifischen sportlichen Handlungen (z.B. Skilauf, Kajak, Windsurfen) zu erhöhen. Die Forschungen liefern auch einen Beitrag zur allgemeinen Struktur sportlicher Handlungsräume.

Literatur


Situative Kontexte als Lernfaktoren (1995 – 2010)  

Ausgehend von einem handlungstheoretischen Rahmenkonzept wird der Einfluss von Situationskomponenten auf das Bewegungslernen untersucht und didaktisch-methodisch strukturiert. Durch gezielte Veränderung situativer Settings werden Bewegungsangebote („affordances“) eröffnet bzw. Rahmenbedingungen („constraints“) für die Entwicklung von Bewegungsmustern gesetzt. Die Varianz von Handlungssituationen wird als konstruktive Komponente des Bewegens und Lernens eingesetzt. Die intendierten Bewegungsmuster werden dabei nicht durch verbale oder visuelle Vorgaben explizit adressiert, sondern sind als Resultate von Person-Umwelt-Aufgabe-Bezügen emergent. Nach Evaluationsarbeiten in einer situationsbezogenen Sportart (Skilauf) wurde das Konzept auf andere Sportarten übertragen.

Literatur


Wahrnehmung, Bewegung und Kognition (2004 – 2010)

Zahlreiche Phänomene im Sport legen die Vermutung nahe, dass Wahrnehmung und Bewegung auf Basis gemeinsamer kognitiver Repräsentationen verzahnt sind, welche die Wahrnehmung bewegungsbezogener Kontexte beim aktiven Handeln sowie bei der Beobachtung von Fremdbewegungen strukturieren. Neuere theoretische Ansätze gründen auf funktionalen, handlungseffektbezogenen Strukturen als semantischen Kernen gemeinsamer Repräsentationen. Auf dieser Grundlage stellt sich die Frage, ob und wie sich dies in Zusammenhängen zwischen motorischen und perzeptiven Leistungen niederschlägt. Auf perzeptiver Seite setzt dies voraus, dass funktionale Strukturen des Handelns anhand topologischer Merkmale von Bewegungsverläufen erkannt werden können, wofür eine Reihe von Befunden aus Studien mit sog. Point-Light Displays spricht. In einer explorativen Studie mit 36 Probanden wurde der Zusammenhang von perzeptiven und motorischen Differenzierungsleistungen anhand von Wurfbewegungen untersucht. Es bestätigt sich zum Ersten, dass die in Point-Light-Technik (abstrakt) dargestellten Bewegungsabläufe ausschließlich auf Basis von topologischen Merkmalen erkannt und in hohem Maße differenziert werden. Zum Zweiten werden signifikante Zusammenhänge zwischen motorischer und perzeptiver Expertise festgestellt, die mit dem Grad einschlägiger Bewegungserfahrung kovariieren. Letzteres ist im Rahmen von „Embodied cognition“-Konzepten plausibel interpretierbar.

Literatur

 

Transfer beim motorischen Lernen (2010 – 2018)

Bei der didaktischen Organisation von Lernprozessen geht man explizit oder implizit davon aus, dass antezedente Lerneffekte und Erfahrungen nachfolgende Lernprozesse im Sinne von positivem Transfers beeinflussen. Diese Annahme spielt auch im Leistungssport eine Rolle, wenn z.B. im Techniktraining spezielle Übungen durchgeführt werden in der Annahme, dass sich dadurch Transfereffekte auf Gesamtbewegungen und damit verbundene Leistungsverbesserungen erzielen lassen. Die Lernforschung beschäftigt sich mit der Frage, wie transferrelevante Einheiten beschaffen sind, wie sie übertragen werden und wie sich bei Transfer Teil- bzw. Gesamtstrukturen verändern. Im vorliegenden Projekt werden als transferrelevante Einheiten situationsbezogene Aktions-Effekt-Relationen (SAE- bzw. SRE (stimulus-response-effect)-Triplets)) unter Führung antizipierter Effekte angenommen. Antizipierte Effekte sollten auch beim Transfer solcher Einheiten in neue (Lern-) Kontexte transferrelevante Komponenten darstellen, wobei durch veränderte situative Randbedingungen in der Transfersituation modifizierte Bewegungsaktionen emergieren. In einem 5-stufigen experimentellen Versuchsdesign mit insgesamt 135 Probanden werden signifikante Transfereffekte nachgewiesen, die sich auf dieser Modellbasis interpretieren lassen 

Ergebnisse  


Motorische Fitness von Soldaten (2012-2017; internes Projekt im Auftrag des BMVg)

In diesem Teilprojekt im Rahmen eines umfassenden Projekts zur psychophysischen Fitness von Soldaten ging es um die Entwicklung und Evaluation eines Tests zur Erfassung der motorischen Fitness von Soldaten. Im Vordergrund des Tests stehen dabei feldorientierte Funktionsprozesse der motorischen Kontrolle, insbesondere der Ansteuerungspräzision und der Stabilität von Halte- und Zielmotorik. Diese werden differenziert für die Funktionseinheiten von Rumpf und von unteren und oberen Extremitäten über Expertenratings erfasst. Die Testevaluation mit insgesamt 150 Probanden ergab, dass der Motoriktest die gängigen Testgütekriterien bezüglich Objektivität, Reliabilität und Validität erfüllt.